Thema: 1919: Der Tod des Doppeladlers – Das Ende der Habsburger Monarchie
Samstag, 23. Februar 2019, 0945 – 1200, Universität Zürich Zentrum, Hauptgebäude Rämistrasse 71, Raum KOH-B-10
Referenten: Prof. Dr. Manfried Rauchensteiner, PD Dr. Hans Rudolf Fuhrer.
Vom Kaiserreich zum Krüppel
Erinnern wir uns an den Ersten Weltkrieg und die Verträge von Versailles, sind unsere Augen in der Regel auf Deutschland und seine Reparationszahlungen gerichtet. Dass Österreich am Ende des Ersten Weltkrieges auch eine dramatische Zeit durchlebte, wird vielfach vergessen. 130 Zuhörerinnen und Zuhörer folgten den Ausführungen des Wiener Historikers Manfried Rauchensteiner und von Hans Rudolf Fuhrer.
Nach dem Tod von Franz Joseph I. bestieg am 21. November 1916 Karl I. (1887 – 1922) den Thron. Von Historikern wird er eher als Verlegenheitslösung beurteilt, wie Manfried Rauchensteiner in seinem Referat «Ein Kaiser zu viel» darlegte. Verkannt wird allerdings, dass er früh Avancen für einen Frieden unternommen hat. Erst seit kurzem sind die Tagebücher seines Jugendfreunds Graf Tamas Erdödy aufgetaucht, aus welchen hervorgeht, dass Karl I. bereits 1917 auf einen Frieden mit Frankreich hingearbeitet hat. Doch der deutsche Kaiser Wilhelm I. forderte ein alleiniges Bestimmungsrecht, was Karl I. dazu verdammte, den Krieg weiterzuführen. Am 3. November 1918 kam es zum Waffenstillstand mit Italien. Die Verzichtserklärung Karls I. 8 Tage später, künftig an den politischen Vorgängen nicht mehr teilnehmen zu wollen, unterzeichnete er nur widerwillig. Auf Betreiben der Alliierten verliess er am 24. März 1919 Österreich in Richtung Schweiz.
Die Nordslawen, die Ungarn und die Südslawen verabschiedeten sich schrittweise von der Monarchie, die im Verlaufe des Jahres 1918 im Chaos versank. Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Der Zerfall Österreich-Ungarns und das Diktat von Saint-Germain-en-Laye (Versailles) vom 10. September 1919 waren Ausgangspunkt für ein neues Österreich. Der Sozialdemokrat Karl Renner (1870 – 1950) wurde als Vertreter Österreichs in Versailles zur Unterzeichnung des Vertrags eingeladen – Verhandlungen waren keine vorgesehen – konnte aber ein hartes Diktat, wie es Deutschland auferlegt wurde, abwenden. Zwei bolschewistische Umsturzversuche, einen davon durch den ungarischen Russlandheimkehrer Béla Kun (1886 – 1938) unterstützt, wurden abgewehrt. Was übrig blieb, war aber ein schwacher Staat. Die ehemalige Habsburger Monarchie blieb bis 1938 – dem Anschluss an Deutschland – ein «Krüppel», wie es Rauchensteiner ausdrückt.
Vorarlberger suchen Anschluss an die Schweiz
Die Tragödie um die Habsburger Monarchie hatte einen direkten Bezug zur Schweiz, wie Hans Rudolf Fuhrer ein seinem Referat beleuchtete. Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns suchten die Vorarlberger den Anschluss an die Schweiz. Die Not der Bevölkerung Ende 1918 und 1919 war gross. Es herrschte Chaos, Inflation, Kohlemangel, Brennholzknappheit, hohe Arbeitslosigkeit und Hungersnot. Wien bat den Schweizerischen Bundesrat um Hilfe, welcher trotz Güterknappheit in der Schweiz und anfänglichem Verbot der Alliierten Tausende von Tonnen Nahrungsmittel nach Österreich liefern liess. Otto Ender (1875 – 1960) plante einen Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz. Die Vertreter der Wirtschaft und des Gewerbes suchten eher den Anschluss an Deutschland, da sie sich attraktivere Absatzmärkte erhofften. Mit 80,75 % stimmten die Vorarlberger am 11. Mai 1919 für den Anschluss an die Schweiz. Bundesrat Calonder nahm die Avancen zuerst mit Zurückhaltung, dann nach Vorliegen des Abstimmungsresultats positiv zur Kenntnis. Es ging letztlich nicht um einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz, sondern um die Aufnahme von entsprechenden Verhandlungen. Ender, der der österreichischen Delegation in Saint-Germain-en-Laye (Versailles) angehörte, fand aber bei Karl Renner kein Gehör. Bundesrat Calonder sprach sich im November 1919 zwar für einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz aus. Das Projekt scheiterte dennoch. Mit dem Beitritt der Schweiz zum Völkerbund in der Volksabstimmung vom 16. Mai 1920 widersprach ein solcher Beitrittsakt dem Völkerbundvertrag.
Dieter Kläy, Vorstandsmitglied GMS